Es wird das Bild der „Neuen Frau" sichtbar. In der Fotografie wurden die Materialität der Haut und die Form des weiblichen Körpers zu zentralen Motiven. (Foto: www.buceriuskunstforum.de)

Hamburg zeigt „Kunst der 20er Jahre“

Welt im Umbruch

Seit dem 9. Februar widmet sich das Bucerius Kunst Forum mit Welt im Umbruch. Kunst der 20er Jahre der kurzen Epoche zwischen den Weltkriegen. Die Ausstellung beleuchtet diese Zeit der Extreme anhand von rund 40 Gemälden der Neuen Sachlichkeit und über 115 Fotografien des Neuen Sehens, die hier erstmals in direkte Beziehung zueinander gesetzt werden.

In der Gegenüberstellung spürt die Ausstellung den Wechselbeziehungen zwischen den Medien nach und rückt zugleich einen Stil in den Mittelpunkt, der mit seiner sachlichen und wirklichkeitsnahen Wiedergabe zur führenden Kunstrichtung der Weimarer Republik wurde. Gezeigt werden Werke von Künstlern wie Otto Dix, Hannah Höch, László Moholy-Nagy, Albert Renger-Patzsch, Christian Schad oder August Sander. Die Ausstellung findet im Rahmen des Jubiläumsjahres 100 jahre bauhaus statt.

„Zu Asche zu Staub / dem Licht geraubt / doch noch nicht jetzt / Wunder warten bis zuletzt" – die Zeile aus dem Titelsong der Erfolgsserie Babylon Berlin umschreibt treffend die Tanz-auf-dem-Vulkan-Stimmung der 20er Jahre. Es ist ein Jahrzehnt voller Extreme und Gegensätze, voller Hoffnung und Elend, Licht und Schatten. In dieser Zeit der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen sowie der sozialen Gegensätze entwickelte sich in der deutschen Kunst mit der Neuen Sachlichkeit eine Stilrichtung, die sich von der gefühlsbetonten Malerei des Expressionismus grundlegend unterscheidet. In kühler, distanziert-sachlicher Wiedergabe des Gegenstands und altmeisterlicher Malweise versuchten die Künstlerinnen und Künstler der labilen gesellschaftlichen Lage eine neue Ordnung und ein stabiles Fundament entgegenzusetzen. Vor dem Hintergrund der traumatischen Kriegserfahrungen und des Zusammenbruchs des Kaiserreichs setzte sich damit eine Sichtweise durch, welche die Welt wirklichkeitsnah erfasste.
Auch in der Fotografie entwickelte sich in der Zeit zwischen den Weltkriegen ein neusachlicher Stil. Die Fotografinnen und Fotografen wandten sich vom Piktorialismus ab und besannen sich auf die technischen wie ästhetischen Eigenschaften des Mediums: die authentische Wiedergabe der Wirklichkeit. Mit dem Neuen Sehen entstand eine fotografische Stilrichtung, die durch ungewohnte Perspektiven sowie das Spiel von Licht und Schatten mit vertrauten Wahrnehmungsgewohnheiten brach.

Dialog zwischen Malerei und Fotografie

Obwohl Malerinnen und Maler, Fotografinnen und Fotografen in der Zwischenkriegszeit ähnliche Bildsujets aufgriffen und ihre Vorstellungen in einer vergleichbaren Ästhetik visualisierten, wurden ihre Arbeiten seit den 20er Jahren nicht mehr in einer umfassenden Gegenüberstellung präsentiert. Die Ausstellung Welt im Umbruch. Kunst der 20er Jahre setzt nun fast 100 Jahre später erstmals zahlreiche Gemälde der Neue Sachlichkeit und Fotografien des Neuen Sehens in unmittelbare Beziehung zueinander. Die von Ulrich Pohlmann und Kathrin Baumstark kuratierte Schau vereint mehr als 40 Gemälde, über 115 Fotografien und rund 20 Zeichnungen, Collagen und Druckgrafiken. Darunter Arbeiten von Künstlern wie Aenne Biermann, Otto Dix, Carl Grossberg, Hanna Höch, Karl Hubbuch, László Moholy-Nagy, Albert Renger- Patzsch, August Sander, Christian Schad, Georg Scholz oder Rudolf Schlichter. Darüber hinaus werden ausgewählte Experimentalfilme gezeigt. Die Ausstellung ergründet den Dialog zwischen Malerei und Fotografie in insgesamt sieben Kapiteln, die sich jeweils einer Gattung oder einem Motivspektrum widmen: dem Stillleben, dem Selbstbildnis, dem Akt, der Architekturdarstellung und der Stadtansicht, den Darstellungen von Industrie und Technik, dem Individualporträt und dem Typenbildnis sowie der politischen Montage. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob es eine gemeinsame stilistische Grundlage gibt bzw. welche medienspezifischen Analogien und Unterschiede sich ausgeprägt haben.

Bild der „Neuen Frau"

Ab 1922 huldigten Malerinnen und Maler, Fotografinnen und Fotografen gleichermaßen dem Stillleben und befanden sich dabei in einem intensiven Dialog. In den gemalten Stillleben finden sich die Perspektiven der Fotografinnen und Fotografen des Neuen Sehens wieder und dynamisieren die Bildräume. In der Fotografie wurden wiederum die Bildelemente der Neuen Sachlichkeit aufgegriffen, um die spezifische Materialität und Textur von Gegenständen sichtbar zu machen. Das Selbstbildnis bot den Künstlerinnen und Künstlern der 20er Jahre die Möglichkeit, sich selbst und ihr Schaffen innerhalb der unterschiedlichen künstlerischen Konzeptionen der Zeit zu verorten. Verhandelt wurden darin nicht nur Fragen nach Identität und Rollenbild, sondern auch das individuelle Verständnis der eigenen Profession. Der Akt blickt in der Kunstgeschichte zurück auf eine lange Tradition. Doch von dieser wollten sich die Künstlerinnen und Künstler nun lösen und entwickelten neue Formen der Aktdarstellung. Die potenzielle Erotik ist teils durch eine überspitzt realistische, teils durch eine unterkühlte Darstellung gebrochen. Zugleich wird das Bild der „Neuen Frau" sichtbar. In der Fotografie wurden die Materialität der Haut und die Form des weiblichen Körpers zu zentralen Motiven. Bei der Architekturdarstellung und der Stadtansicht fanden Bauwerke des Neuen Bauens als Ausdruck von Modernität Eingang in Malerei und Fotografie. Außerdem wurden die Erscheinungsformen des urbanen Lebens, die düsteren uniformen Mietshäuser und die allgegenwärtige Reklame im Stadtbild während der Weimarer Republik in beiden Medien aufgegriffen. Ein weiteres Ausstellungskapitel ist der Darstellung von Industrie und Technik gewidmet. Angesteckt von der Technikbegeisterung der Zeit hielten Künstlerinnen und Künstler Industrieanlagen, technisches Gerät und den Fabrikinnenraum in einem Spannungsfeld zwischen Idealisierung und realistischer Darstellung fest. Im Individualporträt und im Typenbildnis zeigt sich wie in fast keinem anderen Genre das Gesicht der 20er Jahre: das Gesicht der intellektuellen Elite, der neuen Frauen und neuen Männer, des Arbeiters und des Arbeitslosen, der Dame von Welt und der Straßendirne. Die Porträtdarstellung der Fotografinnen und Fotografen des Neuen Sehens ist dominiert vom seriellen Prinzip. Dagegen verdichtet sich in den gemalten Porträts die spezifische Präsenz des Individuums im Einzelwerk. Das siebte Kapitel der Ausstellung behandelt die politische Montage. In den Werken etwa von Karl Hubbuch, Hannah Höch oder Erwin Blumenfeld wird eine radikale Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen evident. So ist auch die Angst vor der erstarkenden Rechten ein zentrales Thema. Während einige Künstlerinnen und Künstler weiterhin Erfolge feierten, bekam ein Großteil die unmenschlichen Restriktionen des NS-Regimes zu spüren. Im Jahr 1933 ging die große Zeit des Neuen Sehens und der Neuen Sachlichkeit zu Ende.

Der Katalog mit Beiträgen von Kathrin Baumstark, Simone Förster, Miriam Halwani, Ulrich Pohlmann, Esther Ruelfs, Bernd Stiegler und Katharina Sykora erscheint im Hirmer Verlag, München (264 Seiten mit Abbildungen ausgestellter Werke, 29 € in der Ausstellung).

Die Ausstellung entsteht in Kooperation mit dem Münchner Stadtmuseum, wo sie 2020 gezeigt wird.

www.buceriuskunstforum.de

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